11. Juni 2024

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Am 15. November 2011 habe ich eine Bildungsvision für die neue Zeit in meinem damaligen Blog veröffentlicht. Sie stiess auf ein grosses Echo, wurde von einer Leserin auf Englisch übersetzt und rund um den Globus diskutiert.

Dreizehn Jahre später ist das Ende des industriell geprägten Schulsystems immer mehr absehbar. Der Lehrpersonenmangel ist stark angestiegen, alternative Formen wie freie Schulen und Homeschooling haben stark an Bedeutung gewonnen und die Finanzen werden immer knapper.

Deshalb habe ich die damalige Bildungsvision ausgegraben und teile sie hier unverändert (abgesehen von einem markierten Einschub, einigen korrigierten Tippfehlern und einigen bereinigten Weblinks). 2011 hatte ich gerade erst begonnen, mich mit dem spielerischen Lernen zu befassen. Die Stossrichtung war aber schon deutlich: Spielen ist die effektivste Lernmethode überhaupt. Zugleich ist Spielen Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung. Wie kann ein Bildungssystem aussehen, das sich am natürlichen Spiel der Kinder orientiert, aber auch zu den Spielregeln der neuen Welt passt?

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Bildung in der ICT-Kultur

Gegenwärtig befinden wir uns im Umbruch von der Buch- zur ICT-Kultur [ICT: Informations- und Kommunikationstechnologie – gemeint ist die digital geprägte Gesellschaft]. Gemäss Trendforschern aus Soziologie und Kommunikationswissenschaft dürften die Veränderungen dieses Umbruchs ähnlich einschneidend sein, wie die vom Buchdruck verursachten (mit Errungenschaften wie Religionsfreiheit, Demokratie, Schule, Universität, usw.). Einige durch die ICT (mit)verursachten Veränderungen erlebten wir bereits, z.B. der Zusammenbruch der Sowjetunion oder die Globalisierung (s. Manuel Castells). Auch die Bildung wird sich stark verändern. Im folgenden habe ich mir Gedanken gemacht, wie ein Bildungssystem aussehen könnte, das von Grund auf für die Gegenwart konzipiert wurde. Als Inspiration dienten mir das Online-Game The West sowie die Habilitationsschrift von Jeanette Böhme “Schule am Ende der Buchkultur“.

Ziel

  •  Das Bildungssystem der ICT-Kultur anpassen
  • Vorbereitung der Kinder auf eine durch rasche Veränderungen geprägte Zukunft

Massnahmen

  •  Formelle und informelle Bildung verschmelzen, resp. informelle Bildung sichtbar machen
  • Gamification der Bildung
  • Echte Individualisierung
  • Just-in-Case-Modell ersetzen durch Just-in-Time-Modell
  • Aufweichung der Trennung von Privatleben/Berufsleben/Schule und von Kind/Erwachsene (Lebenslanges Lernen)
  • Institutionalisierung von Projektmethode und von Lernen durch Lehren.

Hintergrund

  • Kinder wollen von selbst die Welt entdecken und dazulernen. Sie lernen z.B., indem sie die Erwachsenen spielerisch nachahmen.
  • Der grösste Teil des Lernens erfolgt informell. Diese Fähigkeiten werden bislang nur beschränkt ausgewiesen. Ein grosser Teil des formell Gelernten wird nie genutzt und bald wieder vergessen: “Alle Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss noch besitzen, gelangen zu niederschmetternden Ergebnissen und lassen den zynischen Schluss zu, dass das deutsche Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen Null strebt.” (Gerhard Roth: "Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt.", S. 297)
  • Alle Schülerinnen und Schüler haben unterschiedliche Interessen, Voraussetzungen und Begabungen und nehmen Informationen unterschiedlich auf.
  • “Lernen heisst Fragen beantworten. An herkömmlichen Schulen müssen Kinder fortwährend Fragen beantworten, die sie nicht haben. Entsprechend lernen sie nicht, resp. lernen nur für den Test.” (sinngemässes Zitat eines Rektors eines Gymnasiums).
  • Der Wechsel des Leitmediums vom Buch zum Internet krempelt das Umfeld um. Die ICT-Kultur erleichtert die Individualisierung und Zusammenarbeit, ermöglicht das einfache Publizieren und Kommunizieren und verlagert bei den notwendigen Voraussetzungen für das Berufsleben das Gewicht auf Kompetenzen anstelle von Inhalten.
  • 20-25% der Schülerinnen und Schüler sind nicht mehr beschulbar (Ben Bachmair).

Konzeptidee

Schülerinnen und Schüler verbessern ihre Fähigkeiten und erhöhen ihr Wissen durch das Lösen von Quests. Ein Quest kann z.B. sein:

  • “Züchte Sonnenblumen in einem Topf.”
  • “Schneide ein Stück Blech und kante es zu einer Pyramide ab.”
  • “Verfasse einen exzellenten Artikel in der Wikipedia.”
  • “Programmiere eine Facebook-Anwendung mit folgenden Anforderungen…”
  • “Finde einen Hooligan und führe mit ihm ein Gespräch über seine Motivation.”
  • “Arbeite einen Avatar in World of Warcraft bis zu Level 30 hoch.”

Es gibt Einzelquests und Gruppenquests. Anfänglich werden die Quests lokal gelöst, später immer mehr auch global, in Zusammenarbeit über das Internet. Einzelquests können im Verbund mit anderen, die gerade denselben Quest lösen, angepackt werden (z.B. gemeinsame Passtour, um Briefträgergeografie zu üben).

Die Questnehmer entscheiden selbst, resp. zusammen mit ihrem Umfeld, wie sie den Quest lösen möchten. Den Quest “Halte ein viertelstündiges Referat in Englisch” kann man lösen, indem man vor Ort Lektionen bei einem Englischlehrer belegt, oder indem man z.B. nach Malta an einen Sprachkurs reist. Schüler erhalten ein z.B. halbjährliches Finanzbudget für die Lösung der Quests. Auf einer Online-Karte ist verzeichnet, wo ortsabhängige Arbeiten für einen Quest gelöst werden können, z.B. wo eine Werkstatt zum Abkanten von Blech zur Verfügung steht oder wo ein Klavierlehrer zu finden ist.

Sind die Questnehmer überfordert, können sie die Dienste eines Coaches in Anspruch nehmen. Dafür erhalten sie ein z.B. halbjährliches Budget von Coaching-Punkten, das sie zusätzlich speisen können, indem sie selbst andere Questnehmer coachen.

Für jeden erfolgreich gemeisterten Quest gibt es Punkte für bestimmte Fähigkeiten und bestimmte Wissensgebiete. Der Questgeber bestimmt, wie das Ergebnis kontrolliert wird. Z.B. kann er ein Arbeitstagebuch verlangen, oder es reicht ihm das Endprodukt, z.B. die programmierte Facebook-Anwendung. Experten kontrollieren das Ergebnis mit dem Ergebnis “akzeptiert” oder “zurückgewiesen”.

Sobald ein Questnehmer ein gewisses Set an Fertigkeiten erreicht hat, steigt er einen Level höher. Levels können Bedingungen sein, z.B. um als Coach tätig zu sein, um Quests künftig von Hause aus zu erledigen, um selbst über das budgetierte Geld zu verfügen, usw.

Die Questnehmer können die Quests selbst aus einer Datenbank auswählen, anfänglich auf Basis einer Vorauswahl durch den Koordinator. Je nach persönlichem Set von erreichten Punkten bei den Fähigkeiten und Wissensgebieten und nach aktuellem Level werden andere Quests vom System empfohlen.

Die Quest-Datenbank ist öffentlich und kann beliebig erweitert werden. Experten stufen neue Quests ein, resp. definieren die Voraussetzungen, um die Quests zu starten. Die Quests auf den unteren Levels werden vor allem durch Koordinatoren formuliert. Auf höheren Levels stammen die Quests vor allem aus der Privatwirtschaft, von NGOs und von Hochschulen.

Wer einen Quest formuliert, bestimmt, ob dieser dauerhaft in der DB zur Verfügung stehen soll oder nur von ausgewählten Questnehmern genutzt werden darf und ob er nur ein Mal oder mehrfach gelöst werden soll (z.B. Quests aus der Privatwirtschaft). Quests, die nur einmal gelöst werden können, sind Duelle: Questnehmer kämpfen gegeneinander, um als erste den Quest zu lösen. Ist der Quest gelöst, verfällt er.

Es gibt öffentlich zugängliche Ranglisten für sämtliche Fertigkeiten. Questnehmer können selbst bestimmen, ob ihr Pseudonym in der öffentlichen Rangliste ersichtlich sein soll. Diese Ranglisten können zur Verstärkung der Motivation dienen, sich in einem Bereich hochzuarbeiten. Arbeitgeber können mithilfe der Ranglisten für sie interessante Personen entdecken und rekrutieren. Der Übergang von der Schulzeit Lernzeit zum Berufsalltag ist fliessend. Das Questsystem kommt während dem ganzen Leben zum Einsatz, zuerst wird es eher als Questnehmer genutzt, später eher als Questgeber oder Experte.

Insgesamt gibt es folgende Rollen:

  • Questnehmer: Meistern Quests
  • Coaches: Begleiten Questnehmer, geben Tipps, etc., sind typischerweise selbst auch Questnehmer, die auf gewissen Gebieten das Coaching-Recht haben.
  • Lehrpersonen: Unterrichten Questnehmer gegen Bezahlung. Questnehmer können sich Lehrpersonen beliebig aussuchen. Wer z.B. Klavier spielen lernen möchte, geht vielleicht zu einer Klavierlehrerin. Es gibt keinerlei Vorgaben bezüglich der Didaktik. Passt dem Schüler die Kombination Lehrperson/Didaktik/Preis nicht, wählt er eine andere Lehrperson.
  • Koordinatoren: Koordinieren besonders die Quests auf unteren Levels, treffen evtl. eine Vorselektion an Quests, Motivieren, liefern Ideen etc. Koordinatoren sind die einzigen von der Bildungsbehörde fest angestellten Personen.
  • Experten: Stufen neue Quests ein, bewerten die Erfüllung von Quests. Experte für ein gewisses Gebiet kann werden, wer in diesem Gebiet sowie in Fähigkeiten wie eigenverantwortliches Arbeiten eine gewisse Punktezahl erreicht.

Man kann gleichzeitig auf einem Gebiet Questnehmer, auf einem anderen Coach und auf einem dritten Experte sein. Das Coaching z.B. könnte selbst auch wieder ein Quest sein.

Vermutlich müsste dem Questsystem eine “Aufwärmphase” vorgelagert werden, während denen Kinder die wesentlichsten Grundlagen lernen sowie ein Minimum an Eigenständigkeit erlangen würden. Geeignet dazu erscheint mir z.B. ein Waldkindergarten resp. eine Waldschule, wo individuelles Lernen besonders gut möglich ist.

Unterschiede im Überblick

Herkömmliches Bildungssystem

Entwurf für künftiges Bildungssystem

Unterrichtslektionen

Quests

Prüfungen

Erfolgreich gelöste Quests

Zeugnisse

Punktelisten nach Kompetenzen und Inhalten

Schuljahre

Bildungslevels

Klasse

Gruppe

Klassenzimmer

Bildungszimmer beliebige Orte

Schülerinnen und Schüler

Questnehmerinnen und -nehmer

Lehrpersonen

Koordinatoren, Experten, Coaches, Lehrpersonen

Aufgabenhilfe, Nachhilfe

Coaches

Finanzbudget für SuS geht an Schule

Finanzbudget für SuS geht an SuS

Umsetzung der Vision

Mittlerweile arbeiten wir bei Spiel dein Leben intensiv an der Umsetzung dieser Vision. Einiges hat sich konkretisiert, anderes noch weiter von den Glaubenssätzen hinter dem herkömmlichen Bildungssystem befreit. Mehr erfährst du in der Vision von Spiel dein Leben.

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Über den Autor

Nando Stöcklin

studierte Ethnologie und promovierte in Pädagogik. Beruflich beschäftigte er sich als Forschungsmitarbeiter mit den Auswirkungen der digitalen Transformation und mit Spielen. Er ist überzeugt, dass ein natürliches, gesundes Leben sich genauso magisch anfühlt wie Spielen. Mithilfe des von ihm entwickelten Magie-Mischpults hilft er als Magie-Doktor Menschen zurück in das natürliche Spiel des Lebens.

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