14. Juli 2024

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Immer wieder wird vor Handysucht gewarnt. Die einen wollen wahlweise Social Media, Videogames oder Handys für Kinder verbieten. Andere verweisen darauf, wie wichtig es ist, an Schulen Medienkompetenz zu entwickeln. Für mich löst weder das eine noch das andere das Problem, denn dieses liegt ganz woanders. In diesem Artikel beschreibe ich, welche beiden Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit das Risiko von Handy-, Social-Media- sowie Gamesucht minimiert werden kann.

Suchtfaktoren von Handys

Fachleute verweisen darauf, dass jede Nachricht, die auf dem Handy eintrifft, im Gehirn der Benutzerin und des Benutzers Dopamin freisetzt. Dopamin ist ein Hormon, das ein Glücksgefühl vermittelt, indem es den Belohnungsmechanismus im menschlichen Körper in Gang setzt.

Ähnlich ist es mit Games. Bei manchen Games werden die Nutzerinnen und Nutzer immer wieder belohnt durch Punkte und Badges, die sie erhalten, erfolgreich beendete Levels, Geschenken und Fundstücke oder durch andere Fortschritte im Game.

Dank Handys mit Abo haben wir – nicht nur die Kinder! – jederzeit Zugriff auf das Internet, auf Social Media und Games. Wir haben die perfekte, allzeit verfügbare Dopamindusche. Daran gewöhnen wir uns schnell und haben Mühe, wenn die Dopaminquelle zwischenzeitlich versiegt.

Längst nicht alle Jugendlichen sind handysüchtig

Eine Handysucht gibt es offiziell nicht. Mittlerweile hat die WHO aber Social Media- und Gamesucht als Krankheit definiert. In der Schweiz haben gemäss einer Erhebung von Sucht Schweiz im Jahr 2022 3% der gamenden 15-Jährigen eine problematische Nutzung und 7% der Social-Media-nutzenden.

Weshalb nutzen manche Jugendlichen Games und Social Media suchtähnlich und andere nicht? Weshalb sind manche also eher auf die Dopamindusche fixiert als andere?

Weshalb ein Handyverbot problematisch ist

Verschiedene Argumente sprechen gegen ein Handy- oder Social-Media-Verbot. Hier eine Auswahl von vier Punkten:

  1. Verbote ziehen Kontrollmechanismen und Ausweichstrategien nach sich. In der heutigen Welt können höchstens punktuell Verbote gesprochen werden, zum Beispiel an Schulen. Ein Verbot in Privathaushalten oder öffentlichen Plätzen ist nicht realistisch.
  2. Handys und Social Media sind ein Teil unserer Lebensrealität. Kinder und Jugendliche sehen, dass auch Erwachsene sie regelmässig nutzen.
  3. Kinder und Jugendliche müssen lernen, mit den digitalen Geräten umzugehen. Das ist mit einem Verbot nicht möglich.
  4. Handys und Social Media bieten viele Vorteile, die bei einem Verbot nicht ausgeschöpft werden können.

Das bedeutet nicht, dass jedem vierjährigen Kind ein Smartphone mit Internetzugang geschenkt werden muss. Wann ein Kind die digitalen Geräte wie nutzen kann, sollte indes nicht an ein bestimmtes Alter, sondern an den individuellen Entwicklungsstand geknüpft werden.

Weshalb Medienbildung kaum hilft, um die Suchtgefahr zu reduzieren

In der Schweiz gibt es seit Einführung des Lehrplan 21 ein Unterrichtsgefäss 'Medien und Informatik', in dem unter anderem ein kompetenter Umgang mit digitalen Geräten erreicht werden soll.

Schulische Medienbildung kann meiner Meinung nach die Suchtgefahr bei der Nutzung von Handys, also bei Social Media und Games kaum reduzieren. Weshalb? Deutlich wird das etwa in der Klimadiskussion: "Ich weiss, ich sollte nicht fliegen. Aber hey, ich hatte beruflich so viel Stress und so wenig Spass, jetzt darf ich mir 10 Tage auf den Malediven gönnen."

Entscheidend ist vielfach nicht der Verstand, sondern das innere Bedürfnis. Das ist beim Umgang mit digitalen Geräten genauso.

Entscheidend: Innere Erfüllung

Weshalb nutzen einige Social Media & Co. auf problematische Weise und andere nicht? Wie so oft hat das sicherlich mehrere Gründe. Aus meiner Perspektive ist eine Frage zentral: Ist der Mensch innerlich erfüllt? Ist er ganz bei sich? Meine These: Je stärker ein Mensch innerlich erfüllt ist, desto weniger benötigt er Ersatzbefriedigungen, zum Beispiel Dopaminduschen von Social Media.

Wann ist ein Mensch innerlich erfüllt?

Zum einen sind stabile, verlässliche Beziehungen wichtig. Wer sich etwa in der Familie gesehen und geborgen fühlt, muss Freundschaft nicht in Social Media oder anderswo suchen. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, schaue zum Beispiel bei bindungsbasiert.ch vorbei.

Zum anderen sind erfüllende Tätigkeiten zentral. Hinter jeder Tätigkeit steht mindestens eine von vier Motivationsarten: Belohnung, Status, Sinn und innerer Drang/Freude.

Belohnung

Status

Sinn

Innerer Drang / Freude

Tun wir etwas, um belohnt zu werden, sind wir stark fremdbestimmt unterwegs. Handeln wir hingegen aus einem inneren Drang heraus, handeln wir selbstbestimmt. Nur diese letzte Motivationsart ist wirklich erfüllend, denn wir erfüllen, was in uns veranlagt ist.

Motivationstest

Weshalb tust du,

was du tust?

Die entscheidende Frage für ein erfülltes Leben.

Was ist, wenn jemand innerlich nicht erfüllt ist?

Jeder Mensch möchte dieses Gefühl der Erfüllung spüren. Was ist aber, wenn jemand zum Beispiel vor allem arbeitet, um Geld zu verdienen oder im Status zu steigen? Oder was ist, wenn jemand in der Schule sitzt und nur deshalb für die Prüfung lernt, um mit einem einigermassen guten Zeugnis belohnt zu werden? In beiden Fällen aber jegliche Leidenschaft fehlt?

Diese Menschen spüren eine innere Leere. Das fühlt sich unangenehm an. Da kommen jederzeit verfügbare Dopaminduschen, die den menschlichen Belohnungsmechanismus stimulieren, gerade recht. Oder Belohnung durch den Kauf des neuesten Gadgets. Oder durch einen Trip auf die Malediven.

Kinder müssen spielen!

Was packen wir einfach aus Freude, aus einem inneren Drang heraus an? Das freie Spiel!

Beim Spielen leben Kinder das, was in ihnen veranlagt ist. So entfalten sie ihren inneren Entwicklungsplan, entwickeln sich psychisch gesund, schöpfen ihr Potenzial aus, bilden ein gesundes Selbstvertrauen aus und vieles mehr.

Weshalb das Spielen in der industrialisierten Gesellschaft ins Eck verbannt wurde

Jedes Kind spielt, solange es Inspiration erhält und von Erwachsenen gelassen wird. Spielen ist die Natur des Menschen.

In der industriellen Gesellschaft mussten Kinder auf ein meistens stark hierarchisches, fremdbestimmtes Erwerbsleben vorbereitet werden. Es erstaunt nicht, dass sich vor diesem Hintergrund der Glaubenssatz etablierte, dass Erwachsene besser als diese selbst wissen, was sie wann lernen und entsprechend, was sie wann tun sollen. Dieser Glaubenssatz legitimierte, Kinder vom Spielen abzuhalten und aus ihrem natürlichen Zustand zu reissen.

Nachteil dieser Lebensweise war die innere Leere, die dabei bei den Kindern entstand. Vor allem bei jenen, die ihre Veranlagung ganz woanders hatten, als bei dem, was von ihnen gefordert wurde. Oder die in einem ganz anderen Tempo unterwegs waren.

Dieses Mindset ist in Kombination mit Social Media & Co. problematisch

Weshalb spreche ich in der Vergangenheitsform, obwohl das Spiel noch immer ins Eck verdrängt wird? Ganz einfach, weil das eigentlich nicht mehr sein dürfte!

Wir sind im Übergang in die digital geprägte Gesellschaft. Bereits jetzt herrschen andere gesellschaftliche Spielregeln. Das Internet ist das dominierende Kommunikationsmittel. Unsere wichtigsten Werkzeuge sind digitale Geräte. In Unterrichtsgefässen wie "Medien und Informatik" werden – zumindest in der Theorie – die Fähigkeiten aufgebaut, um diese Geräte kompetent zu nutzen. Doch das Mindset stammt noch immer aus den industriell geprägten 19. und 20. Jahrhunderten.

Aus meiner Sicht ist das der Hauptgrund für die 'Handysucht' respektive für die übermässige Nutzung von sozialen Medien.

Social Media verstärkt die Fremdbestimmung

In den letzten Jahrzehnten hat die Schule immer mehr Platz der Kindheit für sich in Anspruch genommen. Entsprechend wurde die Zeit für freies Spielen immer knapper – obwohl freies Spiel die Voraussetzung ist für eine gesunde Entwicklung.

Und die sozialen Medien vernichten nun das letzte bisschen Spielzeit, das den Kindern und Jugendlichen geblieben ist. Denn vielfach ist Social Media unter diesen Umständen wenig inspirierend und noch weniger erfüllend.

Das Internet verstärkt, was da ist: Ist Fremdbestimmung vorherrschend, wird diese verstärkt.

Lösung 1: Mehr Selbstbestimmung

Wollen wir das Problem der exzessiven Handynutzung als Gesellschaft wirklich lösen, hilft weder ein Handyverbot noch ein zusätzliches Unterrichtsgefäss, das vielfach wiederum wichtige Spielzeit vernichtet.

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Probleme an der Wurzel zu packen. Wir müssen den Kindern mehr Zeit zum freien Spielen, mehr Selbstbestimmung zugestehen.

In dem Fall kann das Handy ein hilfreiches Werkzeug zur Vernetzung, Inspiration und Projektarbeit sein.

Lösung 2: Beziehung zu den Kindern pflegen

Auch die zweite Voraussetzung müssen wir im Blick behalten: Die Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen. Verurteilen wir sie, weil sie nur noch "an diesen Geräten hängen und ihre Daumenfertigen trainieren" zerstören wir die Beziehung, die Bindung zu ihnen. Ein geborgenes Nest zu haben, ist aber genauso entscheidend, wie Zeit zum Spielen.

Lasst uns auf der Seite der Kinder und Jugendlichen bleiben. Das tun wir, indem wir sie als einzigartige Wesen betrachten, ihnen viel Zeit zum freien Spielen bieten und sie so mögen, wie sie sind.

PS: Möchtest du dich weiter austauschen?

In der Telegram-Gruppe "Gamebegleitung mit Weitblick" kannst du dich gerne mit anderen austauschen über eine sinnvolle Begleitung von Kindern und Jugendlichen bei der Nutzung von Games und Social Media. Gerne lade ich dich zu dieser Gruppe ein. 

Motivationstest

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was du tust?

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Über den Autor

Nando Stöcklin

studierte Ethnologie und promovierte in Pädagogik. Beruflich beschäftigte er sich als Forschungsmitarbeiter mit den Auswirkungen der digitalen Transformation und mit Spielen. Er ist überzeugt, dass ein natürliches, gesundes Leben sich genauso magisch anfühlt wie Spielen. Mithilfe des von ihm entwickelten Magie-Mischpults hilft er als Magie-Doktor Menschen zurück in das natürliche Spiel des Lebens.

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